75 Jahre Befreiung Europas - Erinnerung auch in schwierigen Zeiten aufrechterhalten. Zur Bedeutung globaler Solidarität gestern und heute

Am 8. Mai 1945 kapitulierte Hitlerdeutschland bedingungslos. Damit endete der Zweite Weltkrieg zumindest in Europa. Ausgerechnet 75 Jahre nach Kriegsende sind wir mit einer globalen Herausforderung konfrontiert, die etwa in den Worten der Bundeskanzlerin Angela Merkel treffend als „größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“ bezeichnet worden ist. Die Ausbreitung des Corona-Virus bedeutet bisher nicht gekannte Einschnitte in sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland. Ökonomisch bedeutet dies für viele eine Zwangspause, die unter Umständen existenzbedrohend sein kann. Aber: In weiten Teilen der Gesellschaft wächst die Solidarität. Das ist begrüßenswert. Um die aktuelle Herausforderung tatsächlich bewältigen zu können, muss diese Solidarität einen zwischengesellschaftlichen, globalen Charakter aufweisen. Kein Land kann dies in unserer heutigen globalisierten Welt allein schaffen. Da sehen wir viel Positives – beispielsweise die Aufnahme von mit COVID-19 infizierten EU-Ausländer*innen in deutschen Kliniken oder aber auch die Unterstützung von Ländern im Globalen Süden im medizinischen Bereich sowie das punktuelle Erlassen von Schulden durch die Industriestaaten, damit ärmere Staaten möglichst kurzfristig verstärkt in den Gesundheitsbereich investieren können. 

Trotz aller Unterschiede können Parallelen zwischen der derzeitigen Ausnahmesituation und dem Zweiten Weltkrieg gezogen werden: Im Alleingang wäre eine Befreiung Europas nicht gelungen. Weder die deutsche Bevölkerung noch Europa als Ganzes waren dazu in der Lage. Dass aufseiten der Befreier Europas neben den bekannten Nationen (westliche Alliierte unter Führung der USA u. damalige Sowjetunion)auch zahlreiche Menschen aus den damaligen Kolonialgebieten oftmals als Zwangsrekrutierte mitkämpften, ist nach wie vor wenig beachtet. Bei den diesjährigen (nun abgesagten) Gedenkfeiern am 8. Mai wollten nun aber zahlreiche Akteure, darunter auch Kommunen, ausdrücklich auf diese Geschichte aufmerksam machen: Europa hat seine Befreiung auch Millionen von Menschen aus den damaligen Kolonien zu verdanken. 

Auch ihr Einsatz ermöglichte es, dass sich nach 1945 allmählich „unsere Art zu leben“ –dazu gehören unter anderem der freiheitich-demokratische Rechtsstaat, eine zahlreiche Perspektiven bietende diversifizierte Ökonomie, individuelle Entfaltungsmöglichkeiten etwa in bildungstechnischer oder beruflicher Hinsicht –etablieren konnte. Bis vor kurzem sah eine Mehrheit in der Bevölkerung all dies als gegeben und normal an. Durch die aktuelle Ausnahmesituation sind wir nun aber mit einer „neuen Normalität“ (so die Bezeichnung zahlreicher Politiker*innen) konfrontiert, die uns zeigt, dass die Entwicklung, die der Globale Norden einschließlich Deutschlands nahm, alles andere als selbstverständlich war und keineswegs unendlich währen muss. 

Im Globalen Süden gab es die beschriebene Vorstellung einer gegebenen positiven Normalität nie. Nach 1945 wurde Europa schnell –besonders durch US-amerikanische Unterstützung –wiederaufgebaut. Trümmerfelder an den damaligen kolonialen Kriegsschauplätzen blieben bestehen. Auch bestanden vielfach makroökonomische Kontinuitäten fort, woran Dekolonialisierungsprozesse wenig änderten. Das alles förderte eine globale Perspektivenungleichheit. Geflüchtete an Europas Grenzen sind nur die sichtbare „Spitze des Eisbergs“ dieser globalen Ungleichheit, die jedoch zurzeit–wenn auch aufgrund der aktuellen Pandemie bedingten Herausforderungen zum Teil nachvollziehbar –kaum noch öffentliche Aufmerksamkeit genießen. Viele dieser geflüchteten Menschen sind Nachfahren derjenigen Kolonialsoldaten, die den Weg für „unsere Art zu leben“ mitebneten. 

Nun sind zahlreiche Herkunftsländer dieser Nachfahren der Befreier Europas nicht „nur“ mit ökonomischen und ökologischen Herausforderungen konfrontiert, auch das effektive Reagieren auf die Ausbreitung einer Pandemie ist ungleich schwerer als im Globalen Norden. Darüber dürfen aktuelle Infektionszahlen weltweit, die zeigen, dass zurzeit der Globale Norden in erster Linie betroffen ist, nicht hinwegtäuschen –ohne vorschnell Horrorszenarien zeichnen zu wollen. Letzteres geschah ja schon jüngst etwa bezogen auf Afrika. Und schlimme Bilder, wie sie uns aus Ecuador vor einigen Wochen erreichten, sprachen für sich. Keiner vermag vorauszusehen, wie sich die Pandemie weiterentwickelt. 

Aber anders als 1945 kann ein Virus am Ende nicht durch militärische und materielle Überlegenheit besiegt werden. Leider muss man an dieser Stelle eine einschränkende Bemerkung machen: Ein mit dem Nationalsozialismus verwandter „Gesinnungsvirus“ wurde 1945 nicht vollständig ausgemerzt und breitet sich in Teilen der Bevölkerung aktuell wieder aus. Diese Akteur*innen verstehen das Wort Solidarität exklusiv. Solidarität gilt ihrer Meinung nach nur in der konstruierten Wir-Gruppe. Dabei ist der Ausbau der oben erwähnten globalen Solidarität nicht nur aus altruistischen Gründen notwendig. Es geht um viel mehr: Im eigenen Interesse sollten wir die Fähigkeit möglichster vieler Menschen weltweit unterstützen, auf Herausforderungen und Krisen reagieren zu können. Eine allgemein gesteigerte Resilienz im globalen Kontext ist langfristig ein maßgeblicher Garant dafür, dass „unsere Art zu leben“ (die bezogen auf globale Nachhaltigkeit selbstredend noch Entwicklungspotential nach oben aufweist)eine Zukunft hat. Daran sollten wir denken, wenn die „alte Normalität“ wiedereinkehrt ist.

Autor: Serge Palasie ist Historiker und Fachpromotor für Flucht, Migration und Entwicklung beim Eine Welt Netz NRW.